The New Artist

Peter Streckeisen (D)

Facebook

Die Prekarität der Liebe zur Kunst

Kommentar von Peter Streckeisen zur Umfrage «The New Artist»

Basel, 12. Juli 2017

Ich bin Soziologe und verstehe nichts von Kunst. Es gibt durchaus Soziolog*innen, die viel von Kunst verstehen: Die Kunstsoziolog*innen beschäftigen sich beruflich mit Kunst, und natürlich gibt es auch unter Soziolog*innen Kunstliebhaber*innen, die sich in der Freizeit oft und mit Sachverstand der Kunst zuwenden. Ich zähle mich weder zur einen noch zur anderen Gruppe. Wenn ich hier einen Kommentar zur Umfrage «The New Artist» schreibe, kann ich mich also nur zu Fragen äussern, die nicht im engeren Sinne Fragen der Kunst sind. Mein Kommentar bezieht sich vor allem auf die Bedingungen, unter denen die befragten Künstler*innen arbeiten. Und zu den wichtigsten Produktionsbedingungen der Kunst zählen natürlich die Künstler*innen selbst: ihre Fähigkeiten und ihre Interessen ebenso wie ihre Lebenslagen und Arbeitssituationen.

In der Hinsicht enthält die Umfrage interessante Hinweise. Die Frage, die ich den Künstler*innen am liebsten gestellt hätte, kommt darin aber nicht vor: Was ist überhaupt ein*e Künstler*in? Wer gehört dazu, wer nicht? Reicht es aus, dass sich jemand selbst als Künstler*in definiert? Ist eine bestimmte Ausbildung erforderlich? Braucht es einen gewissen Grad an Anerkennung – sei es durch andere Künstler*innen, durch Kritiker*innen, durch das breite Publikum? Der besondere Zauber, der oft mit Kunst einhergeht, liegt vielleicht nicht zuletzt daran, dass sich diese Frage weniger als bei anderen Berufen eindeutig und sozusagen offiziell beantworten lässt. Hier jedenfalls haben 457 Personen geantwortet, die sich offensichtlich als Künstler*innen verstehen, auch wenn sie keineswegs alle hauptberuflich künstlerisch tätig sind: Nur 34.8 Prozent gaben an, Vollzeit künstlerisch tätig zu sein (D9), und nur 27.6 Prozent stimmten der Aussage «Ich lebe hauptsächlich von meiner Kunst» zu (D10). Knapp 60 Prozent der Teilnehmenden sind Frauen, und Dreiviertel sind über 40 Jahre alt (Durchschnittsalter 50.1). Im Gegensatz zu dem, was die Überschrift «The New Artist» suggerieren könnte, spricht hier also nicht in erster Linie die künstlerische Jugend zu uns.

Eine Durchsicht der Ergebnisse zeigt sehr rasch, dass die überwältigende Mehrheit der Befragten in einer ganz anderen Welt leben und tätig sind, als uns die People-Magazine mit ihren Berichten über Kunst-Stars oder auch die Tagespresse mit ihren Artikeln über sagenhafte Kunst-Verkäufe an der Art Basel und ähnlichen Kunst-Messen skizzieren. Zwar ist das Element der Magie und des Zauberhaften, die Einzigartigkeit und jener Rest an Unerklärbarkeit und Nicht-Objektivierbarkeit, welcher der Kunst anhaftet, in den Antworten durchaus zu finden. Diese spiegeln aber auch ganz nüchterne Realitäten wie die Prekarität und die Einkommensarmut, von der zahlreiche Künstler*innen betroffen sind. Hier einige harte Fakten: 45.7 Prozent der Befragten geben ein Bruttoeinkommen von höchstens 3’000 Franken pro Monat an (D12). Zwei Drittel verdienen mit ihrer Kunst maximal 20’000 Franken pro Jahr (D11). 42.9 Prozent haben einen Nebenjob im Kultur- und Kreativsektor (in vielen Fällen handelt es sich um Unterricht, aber auch Kunstvermittlung und Mediation), 24.1 Prozent in einem anderen Bereich. Immerhin ein Drittel der Befragten ist auf finanzielle Unterstützung von Familie und/oder Partner*in angewiesen, 18.8 Prozent leben «mit Hilfe vom Erspartem, Erbe, Aktien» (D10). Die überwältigende Mehrheit finanziert die eigene künstlerische Tätigkeit zu einem guten Teil aus der eigenen Tasche: «Eigenfinanzierung» steht bei den Geldquellen mit riesigem Abstand an der Spitze (86.7 Prozent der Befragten), weit vor der öffentlichen Hand (39.6%), der Subskription (33.7%), den Ausstellungsinstituten und Veranstaltern (33.3%) und den Stiftungen (29.8%) (H10). Und unter jenen Künstler*innen, die Eigenfinanzierung als Quelle nannten, macht diese in 44.4 Prozent der Fälle über drei Viertel aus (H10a).

Magie und Zauber scheinen hingegen durch, wenn nach der Motivation und der Inspiration der Künstler*innen gefragt wird. Bei der Frage «Warum wurden Sie Künstler*in» zum Beispiel erzielen der innere Drang und die Liebe zur Kunst über 80 Prozent Zustimmung; Selbstbestimmung, Selbständigkeit, Selbstverwirklichung und Selbsterfahrung folgen auf dem Fuss. Talent erfährt bereits deutlich weniger Zustimmung (H1). Inspiriert fühlen sich die Künstler*innen vor allem durch die Kunst auf der einen Seite, den Alltag und die Natur auf der anderen Seite. Auch die eigenen Träume und das Unterbewusstsein spielen eine Rolle, Gesellschaft und soziale Themen ebenfalls, etwas weiter zurück liegt die Wissenschaft als Inspirationsquelle (H8). Und wenn über 80 Prozent der Befragten der Aussage «Kunst ist Leben, Leben ist Kunst» zustimmen (H16), wissen wir definitiv, dass wir es hier mit Menschen zu tun haben, die ganz stark von etwas beseelt sind, das den meisten anderen Menschen in unserer Gesellschaft ein Leben lang eher fremd bleibt.

Bei aller Liebe zur Kunst zeigen sich die Künstler*innen in ihren Antworten aber durchaus realistisch. Die wichtigsten Charaktereigenschaften, die erfolgreiche Künstler*innen auszeichnen, sind ihrer Meinung nach Ausdauer und Beharrlichkeit (H5) – schwerlich Merkmale, die spezifisch etwas mit Kunst zu tun haben. Bei den Faktoren für eine erfolgreiche Kunstkarriere halten sie Netzwerk, Beziehungen, Fleiss und Ausdauer für wichtiger als Originalität, Einzigartigkeit oder Charisma (H11). Auch bei der Frage, was sie denn unter Erfolg im Zusammenhang mit Kunst verstehen, werden die hochfliegenden Ambitionen (internationale Anerkennung, Teilnahme an einer Biennale oder Documenta, «wenn meine Kunst die Welt verändern und verbessern kann», «wenn ich in die Kunstgeschichte eingehe» o.ä.) zu Gunsten von Zielen zurückgestellt, die wahrscheinlich den Meisten durchaus in Reichweite erscheinen («wenn ich mein Potential ausschöpfen und gute Projekte machen kann», «wenn meine Kunst Menschen bewegen und Diskurse entfachen kann», Selbständigkeit und Selbstverwirklichung», «wenn sich Kunst und Privatleben vereinbaren lassen») (H12). Vielleicht macht es Sinn, diese Orientierung am Erreichbaren als Haltung zu beschreiben, die aus der Not eine Tugend macht; nicht um die befragten Künstler*innen klein zu machen, sondern um zu anerkennen, dass es ihnen gelingt, etwas Grossartiges in ihr Leben zu integrieren.

Wir Soziolog*innen beschreiben Menschen in der Gesellschaft oft an Hand abstrakter Konzepte und Theorien. Ein Beispiel dafür ist das Konzept des Sozialen Raums von Pierre Bourdieu. Mit diesem Konzept lässt sich die Gesellschaft auf einem Blatt Papier skizzieren. Es gibt zwei Achsen: oben und unten, links und rechts. Oben sind jene gesellschaftlichen Positionen, an denen sich viel Ressourcen und Macht konzentrieren. Links sind jene Positionen, in denen die Menschen über mehr kulturelle als ökonomische Mittel verfügen. Und umgekehrt. Wir würden vermuten, dass sich die Künstler*innen im linken Spektrum befinden – manche weiter oben, andere weiter unten. Die Umfrage bestätigt dies: 57.1 Prozent der Befragten verfügen über einen Hochschulabschluss (D7), aber sehr viele von ihnen leben mit einem Einkommen, das in unserer Gesellschaft für Menschen ohne (anerkannte) Berufsausbildung charakteristisch ist. Vor diesem Hintergrund ist es interessant zu sehen, wie die Befragten auf folgende Frage antworten: «Wenn Sie nicht Künstler*in geworden wären, welchen Beruf hätten Sie am ehesten gewählt?» Am meisten Zustimmung erhalten Berufe, die ebenfalls im linken Spektrum zu verorten sind (Autor*in, Wissenschaftler*in, Filmemacher*in, Lehrer*in, Musiker*in), am wenigsten hingegen solche, die oft mit Geld und/oder Macht assoziiert werden (Werber*in, Ärzt*in, Politiker*in, Jurist*in und weit abgeschlagen: Bankangestellte*r). Leider wurden keine un- oder niedrigqualifizierten Berufstätigkeiten als Antwortmöglichkeiten vorgegeben, die sich in durchaus ähnlichen Einkommenslagen wie die meisten der Befragten bewegen, also zum Beispiel: Reinigungskraft, Velokurier*in oder Hilfsarbeiter*in auf dem Bau.

Die Schweizerische Zeitschrift für Soziologie hat soeben ein ganzes Heft der Frage gewidmet, ob die Welt der Kunst heute den Spiegel für Veränderungen in der Arbeitswelt abgibt (Heft 43/2, Juli 2017). In einer Zeit der Flexibilisierung und Prekarisierung, in der das stabile «Normalarbeitsverhältnis» für immer mehr Menschen ausser Reichweite gerät, breiten sich zunehmend ungewisse Arbeits- und Lebensverhältnisse aus, die an das traditionelle Bild der künstlerischen Bohème erinnern mögen. Ähnliches lässt sich sagen mit Blick auf die Grenze zwischen Freizeit und Arbeitszeit, die in vielen Fällen durchlässig wird. Die Welt der Kunst wäre in dieser Perspektive weniger die Avantgarde der Veränderungen als jener Bereich, in dem sich die heute auf breiter Basis in Frage gestellte Standardisierung und Absicherung der Arbeit historisch gesehen gar nie durchgesetzt hat. Mit ihrer hohen Zustimmung zur Aussage «Kunst ist Leben, Leben ist Kunst» stehen die befragten Künstler*innen in der Tat für eine Haltung, die keine klaren Grenzen zwischen Arbeits- und Freizeit erkennen lässt. Sie «verbinden Ferien und Auszeit oft mit Recherche und künstlerischer Produktion», müssen sich nicht «von der Kunst erholen» oder «kennen keine Wochenenden». Der Satz «Ich mache kaum oder nie Ferien» erhält mehr Zustimmung als die Aussage «Ich mache regelmässig Ferien», und kaum jemand möchte gerne «ein Jahr mit der Kunst aussetzen (Sabbatical)». (H16)

Das künstlerische Selbstverständnis der Befragten ist also vermutlich mit einer Haltung verbunden, die traditionelle und als einengend empfundene gesellschaftliche Grenzziehungen wie die Trennung von Arbeits- und Freizeit in Frage stellen. Gewisse Sorgen scheint den Künstler*innen allerdings ihre finanzielle Situation zu bereiten: So würden sehr viele der Befragten als Massnahme, um die Position der Schweizer Kunst zu stärken, mehr subventionierte Wohn- und Arbeitsräume sowie mehr Ankäufe der öffentlichen Hand befürworten; selbst ein «Grundeinkommen für Schweizer Kunstschaffende» erhält über 70 Prozent Zustimmung (H23). Die «Selbstprekarisierung» der Künstler*innen und ihre Modellhaftigkeit in der neoliberalen Ökonomie wird in ähnlichem Ausmass als eine grosse Gefahr wahrgenommen wie all jene Prozesse, welche der Kommerzialisierung der Kunst in die Hände spielen (H21). Bemerkenswert finde ich überdies die Antworten auf die Frage «Wer oder was soll künftig mehr Einfluss haben in der Kunstwelt?» (H19): Über 80 Prozent der Befragten nennen hier die Künstler*innen selbst, keine andere Antwortmöglichkeit erhält eine annähernd gleich hohe Zustimmung; weniger Einfluss wünschen sie sich vor allem von Sponsoren, Kunstberater*innen, Messen und Auktionshäusern.

Die Prekarität ihrer Liebe zur Kunst ist für die Befragten demnach auch mit dem Gefühl verbunden, dass sie in ihrer geliebten Welt nicht über allzu viel Einfluss verfügen. Zweifellos befinden sie sich mit diesem Gefühl in guter Gesellschaft mit anderen Gruppen im linken Spektrum des sozialen Raums, so dass es Sinn machen könnte, aufeinander zuzugehen und sich für gemeinsame Anliegen einzusetzen. Ich denke dabei nicht zuletzt an die Angehörigen des akademischen Prekariats (über 80 Prozent des wissenschaftlichen Personals an Schweizer Universitäten ist befristet angestellt), aber auch an andere Kulturproduzent*innen (etwa Journalist*innen und Medienschaffende im weiteren Sinne des Wortes), die angesichts der um sich greifenden Ökonomisierung und Prekarisierung heute vielleicht ein gemeinsames Interesse an der kollektiven Verfügungsgewalt über die kulturellen Produktions- und Kommunikationsmittel entwickeln könnten.

Peter Streckeisen ist Dozent für Community Development an der ZHAW und Privatdozent für Soziologie an der Universität Basel